Manja - Anna Gmeyner

  • „Jetzt sind wir wieder beisammen“, sagte sie mit einem tiefen Atemzug. „Wir wären schrecklich arm ohne die Mauer.“ Das war wieder ein Satz, den keiner so einfach sagen konnte wie Manja, so, als ob man sein Herz aufmachte, ohne sich zu schämen. Und wieder wirkte der alte Zauber auf die vier Knaben, und wieder sind die Dinge ringsumher mehr als das wenige, das sie sind, riecht das Wasser vtm Fluss nach Meer, locken die Schiffe, wölbt sich der gestirnte Nachthimmel, in die Luft voll Getön, Geruch, Geräusch, zu tieferer Wirklichkeit gesteigert.“


    Irgendwo in Deutschland, 1920-1934, eine schwierige Zeit. Eine Zeit voller Schrecken, voller Umbrüche, eine Zeit, in der Freundschaften so wichtig waren. Und so fanden sich fünf Kinder: Karl, Heini, Franz, Harry und Manja. Sie stammen allesamt aus unterschiedlichsten Familien. Manja selbst entstammt einer jüdischen Einwandererfamilie, die mittlerweile verarmt ist. Karl ist Sprössling einer Proletarierfamilie, Heini einer liberalen Familie, Harry, der Halbjude, gehört dem reichen Großbürgertum an. Trotz ihrer unterschiedlichen Herkunft freunden sich die fünf an und halten zusammen wie Pech und Schwefel. So trotzen sie auch den nationalsozialistischen Einflüssen, die dieser Tage immer stärker werden, die Freundschaft und Liebe zu Manja ist größer als rassenfeindliche Ideologien. Doch jedes der fünf Kinder wächst in einem anderem sozialen Umfeld auf, wächst mit den Ideologien der Eltern auf, die beeinflussen, die Druck machen. Können die Kinder dem Druck der Zeit standhalten, halten sie weiterhin zu Manja?


    „Wenn man das eine herausnehmen und ein anderes dafür hineinlegen könnte. Welches? ... Was von dem, was sie sein werden ist schon in ihnen aufgezeichnet? Was von dem, was sie erleben werden, wächst mit ihnen mit? Welcher jähzornige Urahne bedroht sie, welche Eigenschaften eines längst Toten, eine Kette Lebender überspringend, wird sie anfallen? Welche fremde Schuld hat sie schon gezeichnet. Welche Angst kreist in ihrem Blut? Ist ihr Schicksal angelegt wie ihr Geschlecht? Unausweichlich, wie das fast kahlköpfige Kind, an dessen Bettchen er jetzt steht, ein Mädchen und eine Frau, das dunklere mit dem flachen Gesicht daneben, ein Knabe und ein Mann wird. Wer gibt hier Rechenschaft, wer führt hier Buch?“


    Anna Gmeyner hat mit „Manja“ ein eindrucksvolles und nachhaltiges Zeitdokument geschaffen, dass zwar fiktiv ist, aber durch ihre genauen Beschreibungen und Betrachtungen dermaßen realistisch scheint, dass der Hörer sich vorkommt, als würde Iris Berben eine Geschichte von ihr bekannten Menschen erzählen. Sie lässt den Hörer direkt daran teilhaben, bindet den Hörer ein, ein in eine Geschichte von literarischer Brillianz, die das Erzähltalent Gmeyners wunderbar zur Geltung bringt. Eine Geschichte über eine Kinderfreundschaft, die so unbeschwert, locker und leicht sein könnte, wenn sie nicht in dieser schrecklichen Zeit begonnen hätte.


    Der Hörer bleibt wütend, fassungslos und hilflos zurück, weil er nicht eingreifen kann, er kann nicht an den Menschen rütteln und rufen: „Wacht doch bitte endlich aus diesem Albtraum auf und tut etwas!“ Nein, das funktioniert leider nicht, aber uns bleibt die Geschichte, die an Bekannte, Freunde und Verwandet empfohlen werden kann und so ein Dialog geschaffen werden kann, der dazu beiträgt, dass die Schrecken der damaligen Zeit bewusst bleiben, aber keine Chance mehr erhalten. Der Hörer merkt aber auch, wieviel Herzblut Berbens in diesem Hörbuch steckt, sie gibt jedem der zahlreichen, völlig unterschiedlichen, Charaktere eine eigene Klangfarbe, lässt die Dialoge sehr lebendig werden und verleiht den poetischen Beschreibungen hingegen eine nahezu nüchterne, distanzierte Stimme. Iris Berben schafft so ein Hörerlebnis der ganz besonderen Art, das schon mehr Hörspiel als Lesung ist, wobei es schwerfällt bei dieser Geschichte von Spiel zu sprechen, das immer etwas Fröhliches mit sich bringt. „Manja“ begeistert, bewegt, betrübt, berührt und beeindruckt.


    „Manja“ ist eine leicht gekürzte Hörbuchfassung auf zwölf CDs mit einer Gesamtspieldauer von 873 Minuten. Hervorzuheben sei hier auch noch das wunderschöne Booklet mit zahlreichen wertvollen Informationen zu Anna Gmeyner, Iris Berben, dem Walter Adler sowie zum Buch „Manja“. Ferner werden Zitate aus dem Buch präsentiert, ein altes Buchcover ist zu sehen und dies alles in einer äußerst gelungenen Aufmachung. Alles in allem ein rundum gelungenes Hörbuch.


    Iris Berben, geb. 1950 in Detmold, ist durch zahlreiche Rollen in Kino- und Fernsehfilmen bekannt. Für ihre schauspielerischen Leistungen wurde sie mit vielen Auszeichnungen geehrt, für ihr politisches Engagement erhielt sie zweimal das Bundesverdienstkreuz. Ihren Beitrag zur Aussöhnung zwischen Deutschland und Israel ehrte der Zentralrat der Juden in Deutschland 2002 mit dem Leo-Baeck-Preis.


    Anna Gmeyner (1902 -1991) gehörte um 1930 zur literarischen Avantgarde. Ihre Theaterstücke wurden bis 1933 mit Erfolg in Deutschland aufgeführt. Im Exil schrieb sie Filmdrehbücher und Romane. "Manja" kam 1938 bei Querido in Amsterdam unter dem Pseudonym Anna Reiner heraus. 1984 erschien das Buch zum ersten Mal in Deutschland bei persona.