Alles anzeigenVor 500 Jahren hat Martin Luther die Bibel ins Deutsche übertragen. Besonderes Augenmerk richtete der Theologe auf das Buch der Psalmen: "Wilstu die heiligen Christlichen Kirchen gemalet sehen mit lebendiger Farbe vnd gestalt / in einem kleinen Bilde gefasset / So nim den Psalter fur dich / so hastu einen feinen / hellen / reinen / Spiegel / der dir zeigen wird / was die Christenheit sey". Ein halbes Jahrtausend später blickt die Lyrikerin Ruth Johanna Benrath in diesen Spiegel und liest dessen Bilder von Luthers Lebensende her: "Luthers letzte Sätze / fuchtelnde Handbewegungen über der Bettdecke / Seraphim, Cherubim / sammeln sich in der Zimmerecke". Der Mund ist trocken, die Zunge steht in Flammen. Doch was ist geleistet, was ist erkannt? Wer kann den göttlichen Weg, diese "Irrfahrt" verstehen, wer sie ohne Anmaßung in Worte fassen? Luthers Bilanz heißt: Demut. Eine Schlussfolgerung, die Benrath nur bedingt ins Heute verlängern will. Sich den Tonarten der Psalmen, Klage und Lobpreisung, anschmiegend sucht in ihren Gedichten ein Ich eine hinreichend brauchbare Position in der unbehausten Gegenwart: "Der Mensch ein Strich / in der Landschaft ein Punkt / ein Strichpunkt / ich / Pünktchen / Handschrift Gottes / Luft zwischen den Buchstaben / Atem". Die Autorin nimmt die Spielaufforderung an: Wie kann ein Transfer von Sinn und Übersinn in Sprache gelingen? Hatte Luther in der Übertragung aus dem Lateinischen ins Deutsche vor allem das zu Erfahrende, das Spirituelle, das Transzendente gesucht, so stärkt die Autorin in Auseinandersetzung mit dem Theologen dem gegenwärtigen Ich, dem "Strich in der Landschaft" den Rücken: "Schreiben heißt / Rütteln am Firmament / sich aus Trotz über den Rand des Universums lehnen." Durch das Hörstück zieht die durchaus säkulare Frage, wie wir uns das Dasein tagtäglich übersetzen, uns ins Leben setzen.
Mit:
Inga Busch, Birte Schnöink, Ulrich Noethen
Regie: Stefan Kanis
Musik: Dietrich Petzold
Quelle: https://www.mdr.de/kultur/podc…na-benrath-psalm-100.html