Morton Rhue: Ich knall euch ab!
(Originaltitel: Give A Boy A Gun)
Gelesen u.a. von Julia Nachtmann, Jürgen Uter, Samuel Weiss.
(GoyaLiT | Jumbo Verlag, 2009)
2 Audio-Cds
Länge: 2:08:50 Std.
ISBN-Nr. 978-3-8337-2290-5
Inhaltsangabe des Verlags:
Gary und Brendan sind Außenseiter. In ihrer Schule herrscht eine klare Trennung zwischen Sportlern auf der einen und Nicht-Sportlern auf der anderen Seite. Demütigungen sind an der Tagesordnung. Die Lehrer schauen weg. Der Hass auf die Mitschüler wächst, und nach und nach reift in der Phantasie der beiden Jungen der Plan, es den anderen richtig heimzuzahlen. Ihr Vorbild: Die Amokläufer der Columbine Highschool in Littleton. Aus der Phantasie wird Realität: die Situation eskaliert beim Abschlussball in der Turnhalle.
_________________________ M E I N U N G _________________________
Der unter dem Pseudonym Morton Rhue schreibende US-Schriftsteller Todd Strasser hat sich mit „Die Welle“ einen Dauerplatz in Unterrichtsreihen an deutschen Schulen gesichert. Der Roman über das Entstehen und Funktionieren von Faschismus auch in der heutigen Zeit ist ohne Frage fesselnd, leider auch nach wie vor wichtig und als Mahnung nur mit dringender Empfehlung zu versehen.
Doch Strasser scheut sich nicht, auch andere Tabuthemen der Jugend anzupacken: In „Ghetto Kidz“ etwa, oder dem verstörenden „Boot Camp“. Mit „Give A Boy A Gun“ hat er nun ein weiteres Thema aufgegriffen, das man aus den Nachrichten leider nur zu gut kennt: „Ein Amoklauf an der <beliebiger Name einsetzbar>-Schule forderte heute ... Menschenleben. Der/Die Täter...“
Just vor ein paar Tagen ereignete es sich wieder, ein Schüler einer 13ten Klasse warf einen Molotowcocktail in seine Schule, keulte mit einer Axt rumund verletzte dabei mehrere Schüler schwer.
Man muss es sagen wie es ist: Amokläufe an Schulen schockieren ohne Frage - was treibt bereits Jugendliche dazu, ihr Leben meist „wegzuwerfen“ und andere Personen dabei in einem Strudel aus blankem Hass und Gewalt mitzureissen?
Es ist das Paradoxon schlechthin: Die Massenmedien, die eigentlich einen Informationsauftrag verfolgen sollten, haben sich seit Jahr und Tag ihre eigene quotenträchtige Wahrheit erfunden: Nur die „Killerspiele“ können Jugendliche in derartige Zustände versetzen. Entsprechend einsetig wird auch über derartige Tragödien berichtet - die wahren Ursachen werden, wenn überhaupt, einige Wochen später aufgeführt, wenn die nächsten bluttriefenden Katastrophen die ersten Seiten zieren - auf Seite 23 in einem kleinen Kästchen neben „Privater Saunaclub lädt zum Spiel ein...“ und „18-25jährige Sie für erotisches Fotoshooting gesucht. Figur egal“..
Es ist traurig, daß hier die Fiktion die Realität begreiflicher und vor allem realer rüberbringt, als es das Informationssystem an sich tut: Morton Rhue hat zwar ein fiktives Szenario ersonnen, basierend jedoch auf der grausamen Realität, schon länger nicht mehr nur auf die USA beschränkt ist. Ja, auch in Rhues Roman sitzen die Amokläufer vor dem PC, chatten mit drei Leuten gleichzeitig etc. Aber eben nicht nur. Im Gegensatz zu den Massenmedien lenkt Rhue nämlich den Leser dazu, ein Gesamtbild zu betrachten: Das soziale Umfeld, Eltern, Freunde, Schule, Sport, Freizeit - und genau darin liegt die Stärke des Romans: Ohne die Moralkeule zu bemühen oder die Schuldfrage einem einzigen Aspekt zuzuschieben, ohne die von den Medien etablierten Klischees zu bedienen, zeichnet Rhue ein Bild erschreckender Nachvollziehbarkeit und hält der Gesellschaft ein nachdenklich stimmendes Bild vor. Es ist kein Problem von „Killerspielen“. Es ist nicht das Problem des Mobbens. Es ist nicht das Problem von mal mehr, mal weniger verkommenen Elternhäusern. Zumindest nicht allein. Es ist ein Zusammenspiel vieler Aspekte, das -so sollte man eigentlich den menschlichen Verstand einschätzen- ohnehin bereits auf der Hand liegt. Nicht jeder, der aus einer Familie von -nehmen wir mal das platte Boulevard-Jargon- „Unterschichten-Proleten“ kommt, endet so. „Doom“ und „CounterStrike“ machen nicht aus Jugendlichen Tötungsmaschinen. Nicht jede Kritik, nicht jede Beleidigung legt gleicht den Schalter auf „Amok“ um. Aber es muss darüber nachgedacht werden, wie wir -die Gesellschaft- mit uns und vor allem mit unseren Kindern umgehen. Und dazu kann jeder etwas beitragen.
Dies vermittelt Rhue, und im Falle von „Ich knall euch ab“ tut er dies obendrein mit einer gewagten, indes gänzlich überzeugenden Stilform: Als Nachbereitung. So kommen mehrere Personen aus dem Leben der zwei fiktiven Amokläufer zu Wort, wie auch die beiden Täter selbst - in ihren Abschiedsbriefen.
Es ist keine Erzählung an sich. Es gibt keine Linearität, keine Abfolge von Handlungspunkten. Es werden Kommentare abgegeben - von eben den Personen, die die (Gefühls-)Welt der beiden Amokläufer seit dem siebten Schuljahr bis hin zur Tat beleuchten.
Ja, es ist anfangs gewöhnungsbedürftig, doch gerät das Ziel, ein Gesamtbild der Tat sowie deren Wurzeln zu vermitteln, mit diesem (nicht-)dramaturgischen Kniff wesentlich authentischer als man es mit einer typischen, spannungsorientierten Handlung hätte erreichen können.
Passend ist zudem, daß die unterschiedlichen Charaktere auch von jeweils unterschiedlichen Sprecherinnen und Sprechern gelesen werden - viele zudem noch unbekannt und gerade deshalb um ein vieles authentischer, als wenn man den obligatorischen „Hollywood-Kader“ vor’s Mikrofon gebeten hätte.
Leider Gottes ist „Ich knall euch ab!“ ein ebenso daueraktuelles Werk wie Rhues „Die Welle“ - weil es die gleiche Ohnmacht bei den Lesern/Hörern hervorruft, weil die Taten in beiden Werken so erschreckend und dennoch nachvollziehbar sind. Rhues Stärke, den Problemen junger Menschen ohne moralischen Zeigefinger ein Forum zu bieten, das faszinierend auf der einen, verstörend auf der anderen Seite ist, das ob dieser Punkte allerdings auch definitiv zum Nachdenken anregt, ist auch in „Ich knall euch ab“ unüberhörbar.
Ob seiner Aktualität und der hervorragenden und erschreckend authentisch wirkenden Hörbuchversion ist „Ich knall euch ab“ eine glasklare Empfehlung - und es bleibt die Hoffnung, daß wenn die Fiktion ein derart umfassendes und nachhaltig zum Denken anregendes Bild zu zeichnen vermag, auch die Massenmedien und somit ein Teil der Bevölkerung umdenken und zu handeln vermögen - im Sinne einer Gesellschaft und nicht der modernen Hexenjagd auf quotenträchtige „schwarze Peter“. | (RS)