Essayistische Betrachtungen zum Thema Serienkiller

  • Angstlust, mit diesem Wort lässt sich das Interesse an so genannten Kriminalromanen beschreiben. Fernab dem wirklichen Leben kann der Leser in der beheizten Wohnstube dem leisen Schaudern nachgehen. „Was wir hier auf der Bühne tun, kann nicht zynischer sein, als das, was die Regierung täglich in unserem Namen verübt“, bemerkte der Provo Frank Zappa bei einem Konzert der ‚Mothers’ in Bezug auf Vietnam. Obzwar sich das System der Selbstjustiz nach dem Weltkrieg #2 gewandelt hat, stehen wir ohne jeden Zweifel auf den Schultern der Schlächter jener Zeit, die Europa in Blut gebadet haben. Der Grund für die eingetretene Humanisierung ist die Sakralisierung der Person, die ständig mit einer Sakralisierung der Nation oder der islamischen Utopie konkurriert. Der Drill der Soldaten und die Reformen der Strafjustiz lassen sich nicht als Fortschritt im Sinne einer wie auch immer gearteten Humanisierung deuten, sondern als bloßen Wandel in der Form der Macht, die ihren identifizierbaren gesellschaftlichen Ort verliert, immer stiller und unscheinbarer, dafür aber allgegenwärtig wird. Die Anwendung von der Folter als Mittel der Wahrheitsfindung oder der Erzwingung von Geständnissen sowie von der Marter als einer öffentlich als Schauspiel zelebrierten Strafe steht seit Abu Graib und Guantanamo wieder auf der Tagesordnung. Nicht einmal in den Kernbereichen des Westens kann mehr von einer sicheren Festigung der Sakralisierung der Person die Rede sein. Noch viel weniger dürfen wir deshalb auf eine selbstläufige Universalisierung der modernen Strafkultur vertrauen.
    Im Geiste des islamischen Fundamentalismus wird der Vollzug grausamer Strafen nicht nur mit Verweis auf eine wörtliche Auslegung alter Rechtstexte, sondern auch gerade wegen der Empörung des Westens oder modernistischer Kräfte geradezu zum identitätsstiftenden Merkmal erklärt, zum Symbol des Widerstandes gegen die säkularistische Dekadenz.
    Der Verlierer, der zum Gewalttäter wird, hat sich damit abgefunden, ein Verlierer zu sein. Zugleich fantasiert er sich in eine Überlegenheitsfiktion hinein, die er dann in der Gewalt realisiert. Er genießt die Rolle des Allmächtigen. Und der eigene Tod – der Selbstmordattentäter und der Amokläufer, der im Kugelhagel stirbt – entspricht seinem Selbsthass. Schon 1966 schrieb Jean Améry „Die Tortur, die Gewalt des Nazismus sei kein Mittel gewesen, sondern sein eigentlicher Zweck.“ Und jüngst zeigte der Soziologe Ferdinand Sutterlüty in einer Studie über Gewaltkarrieren von Jugendlichen, dass das rauschhafte Erlebnis zu einer Gewaltsucht führen kann, einer reinen Lust am Quälen und Sterbenlassen, wie Michael Haneke sie uns in seinem Film „Funny Games“ vorgeführt hat.
    Die Buchstaben des Gesetzes sind Landmarken, durch die sich eine Gesellschaft den Boden bereitet, auf dem sie existiert. Abhängig von den politischen Interessen dieser Gesellschaft entstehen so Gebiete, die großräumig umrissen werden, und solche, die millimetergenau definiert sind.
    Das handelnde Personal in den Kriminalromanen verhält sich nicht wie im bürgerlichen Rechtsstaat, sondern wie vor dem Feudalherren, sie beeiden oder schwören ab, je nach geeigneter Opportunität, geben auch mal das zu, was vielleicht gar niemand begangen hat. Nachdem jeder Autor, der halbwegs auf Plotpoints zuschreiben kann, Lokalkrimis produziert, ist diese Gattung literarisch uninteressant geworden. Auf keine dieser Geschichten mag man sich wirklich einlassen. Hier wird das Genre aufgetankt mit Aura, mit jener Glaubwürdigkeit, die auf Messen oder im Literaturbetrieb nicht zu haben ist. Es sind nurmehr schwache Metaphern für den Niedergang der Menschheit. Diese Genre der Unterhaltung belichtet nicht wirklich das Verworfen–Schweinische, sie suhlt sich nur in den Matschpfützen des Seins, wühlt im Tiefen, im Dunklen. Sie führt uns aus der Erhabenheit ins Private, aus dem Privaten ins Museale, aus dem Musealen in den Müll. Auf eines wartet man jedoch vergeblich: Katharsis. Lediglich die Fälle um so genannte „Serienmörder’ schaffen es noch, unter die Haut zu gehen. Die Tradition reicht von Gilles de Rais (dem Vorbild für das Märchen vom Ritter Blaubart) über Jack the Ripper (Wer sich hinter dem Pseudonym Jack the Ripper verbirgt, konnte bis heute nicht geklärt werden) bis hin zu Fritz Haarmann (Warte, wart nur ein Weilchen...) Bereits Kleist nahm vieles voraus, was Sigmund Freud hundert Jahre später entdeckte. In Penthesilea vermengen sich Erotik und Gewalt, Lust und Todestrieb auf explosive Weise. Sie will erniedrigt werden und selbst dominieren, der Kampf ist ein Sexualakt, das Zerreißen des Opfers ein Orgasmus. Sie liebt auch noch diesen Achilles, Bisse und Küsse reimen sich. Gewalt ist ein natürliches Phänomen. Natürlich meint dabei: Gewalt als Gegenstand wissenschaftlicher Erklärungen ihrer sozialen und institutionellen Herausbildung im angeführten Sinn, also in jedem Schritt orientiert an der Frage: Cui bono?


    Wirkliche Entdeckungen sind selten geworden. Meist weiß man auch gar nicht, wonach man eigentlich konkret suchen müsste, trotz diverser Suchfunktionen im Netz und vor sich hinbrabbelnder Foren. Zum Pathos des Neuen gehört, dass es nicht planbar ist, es ereignet sich einfach. Plötzlich ist es da: ein Hörbuch, bei dem einfach alles stimmt - der unverwechselbare Ton, der bis zum Schluss eine meisterliche Balance zwischen abgrundtiefer Tragik und völligem Entsetzen hält, eine Motivführung, die Steigerungen und Wendepunkte erlaubt, ohne an einer Stelle beliebig zu werden.


    Die Hörfassung der »Fragmente« ist ein lässig hingerotztes Gesellenstück, das in 18 Studio-Stunden eingesprochen wurde. Dennis Rohling spielt seit mehr als 10 Jahren in unregelmäßigen Abständen Theater und hat so seine Leidenschaft für darstellende Kunst entdeckt. Er bekennt sich zu einem Theater, das die Wirklichkeit aufs Spiel setzt und mit der Wirklichkeit spielt, damit man sich ihr anpasst. Rohling hat sich nie als Theoretiker verstanden, gar nicht so selten bezeichnete er sich sogar als ungebildet. Koketterie ist das nicht, es beschreibt einen unverstellten Zugang zum Theater. Was auf der Bühne geschieht, muss Anstrengung hinter sich lassen, die Leichtigkeit, Eleganz und Präzision einer gern verrichteten, tadellos beherrschten Arbeit gewinnen. Die Beobachtung, von Menschen und den Verhältnissen, in denen sie leben, ist die Grundlage solcher Arbeit. Professionell wertet er diese Leidenschaft seit kurzem im Hörspiel aus, so lange hat er gebraucht, um das nervige "Lern lieber was Ordentliches" und "Damit hast du doch eh keinen Erfolg" an sich abperlen zu lassen und seinen eigenen Weg zu gehen. Im Sinne Benjamins ist der vielseitige Schauspieler hier als Komponist, Schauspieler und Produzent unterwegs. Im 21. Jahrhundert ist der User auch Produzent und so hat das Multitalent selbstverständlich auch sein eigenes Label. Dennis Rohling verdankt der Produktion »Holger die Hörspielgurke« gleich zwei Legenden: Den nervigsten Titelsong-Ohrwurm und die Rolle, mit der er immer wieder verglichen wird. Er bekommt Protestemails von Müttern, deren Nerven blank liegen, weil ihre Kinder seit Wochen ‚Holger’ hören und den Titelsong singen. Eine Hommage an diese Kinder gab es ja bei »Holger die Hörspielgurke - Das Mädchen mit dem Gurkenohrring«. Die kleine Lena war die Verkörperung des in der Tat existierenden Holger-Fan-Typs. Als Darsteller begibt sich Dennis Rohling dort hin, wo niemand mit ihm gerechnet hat, und lässt die Wirklichkeit Regie führen. Irgendwas passiert immer - vielleicht brüllt einer, vielleicht schlägt einer zu, vielleicht wird nur alles wieder unendlich peinlich. Produzieren von Spaß - geht das? Dennis Rohling beherrscht diesen Arbeitsvorgang, weil Spaß für ihn heißt, an Bösem nichts zu verschweigen und das Publikum dennoch in ihrem Lebenswillen zu bestärken. Durch eine Kunst, die sowohl in souveräner als auch in kindlicher Weise Spiel bleibt.


    Die »Fragmente« erscheinen als erste Produktion auf dem neuen Hörbuch-Label hoerplanet.de, auf dem Fantasy, Horror, Science-Fiction, Satire, Krimi etc. veröffentlicht werden. Nicht zeigen, was nicht mehr geht. Sondern ausprobieren, was geht. Der Hörplanet ist kein Label, das wahllos Produkte herausbringt. Es gibt eine klare Gliederung mit hohem Wiedererkennungswert. Die „Fragmente“ gibt es bei www.soforthoeren.de als kostenpflichtiger mp3 Download. Der Kunde lädt sich saubere mp3s, die unendlich oft abspielbar und brennbar sind. Nicht wie bei anderen Portalen, wo man einen speziellen Player braucht oder nur drei CDs erstellen kann. Bei www.soforthoeren.de steht der Kunde im Mittelpunkt, also auch ganz die eigene Philosophie. Dennoch ist der mp3 CD in diesem Fall der Vorzug zu geben. Zwar hat man gelernt, den Selbstauskünften der Medien zu misstrauen und in den Making of Produktionen der DVDs nur eine weitere Fiktionsschicht des Gesamtkunstwerks zu erkennen, in Dennis Rohlings Abbild kann man weder Stilisierung noch Pose erkennen. Wie viele gute Sprecher, muss sich Rohling vor seinen eigenen Gags schützen. Er kann spielen, ernsthaft spielen, aber es ist immer ein Augenzwinkern dabei. Dennis Rohling hat in den letzten fünf Jahren fast nur komische Rollen gespielt; der „Holiday Killer“ in <Fragmente> ist sein Entree ins ernste Fach.


    Suspense und Sündenfall. Die Literatur ist in ungeahnte Sphären gestiegen, die davor dem Bereich des Sakralen vorbehalten waren. Deshalb hat sich eine Gegenrichtung entwickelt, bei der die »Fragmente« dem Serienkillergenre zuzuordnen sind. Jedoch nicht in der Pop-Variante: Hollywood-Kino ist anti-intellektualistisch, frauenfeindlich und tendenziell rassistisch. Immer noch gilt ein Menschenfresser wie Hannibal Lecter als die Höchstform des kunstsinnigen Menschen. Es ist kein Zufall, dass sich Hollywood auf dieses Storytelling gestürzt hat, dass durch den Clitshot in »Basic Instinct« popularisiert wurde. Der Film um die Eispickel-Mörderin Catherine Tramell ist ein Film über die Männer, die zu den Hauptakteuren von Sex, Drugs und Rock’n’Roll wurden, die Revolution vorantrieben und dabei echte Erkenntnisse und echte Narben davonzutragen. In die Figur des Detective Nick Curran findet man alles an Erfahrung, Zynismus und Gefährlichkeit: Ein Polizist auf Droge. Ein Mann, der ständig tötet, im Zweifel sogar Unschuldige. Dieser Macho ist ein Gefallener, ein Vergewaltiger, einer, der Frauen versehrt zurücklässt. Im Kampf der Geschlechter ist Curran der schlimmste denkbare Gegner, in »Basic Instinct« hat er eine Frau als gegenüber, die trotzdem überlegen ist. So etwas schreit nach Fortsetzung und für $ 14 Mio macht Sharon Stone erneut die Beine breit. Eine saubere Art von Prostitution.


    Wenn einem sonst nichts einfällt, fallen einem wenigstens Filmstills ein. Das ist schade, denn ausgerechnet in der deutschsprachigen Literatur geht man einen Schritt weiter über die bloße Bebilderung hinaus. A.J. Weigoni stellt sich mit »Massaker« bewusst in die Tradition der hard-boiled school, die in den 1920-er Jahren mit dem Black Mask Magazine, einem amerikanischen Groschenheft, ihr Publikum fand. Der kalte Blick lässt zeitweise erschaudern, „versöhnt“ jedoch durch die innovative Literaturform. Tempo der Handlung und versteckte „Trüffel“ lassen den Leser nicht zur Ruhe kommen; ein Phänomen, wie es den Jerry Cotton Heften in den siebziger Jahren zu Eigen war. Der Krimi „Massaker“ wählt als Handlungsort die „berühmte“ Cranger-Kirmes. Die Protagonisten in »Massaker« drängen sich nicht auf. Sie sind Geschöpfe, die durch den Text geistern, schemenhaft teilweise, um dann mit brachialer Gewalt eine Präsenz zu erreichen, die das Erträgliche der Normalität sprengt. Diese Figuren verunsichern und stehen immer kontrastreich zur bunten Vielfalt der Kirmes.
    Weigoni protokolliert gemeines, ekelhaftes Denken, das die politischen und sozialen Verhältnisse präzise beschreibt. Das, was mindere Belletristik verdrängt oder notfalls opulent stilisiert, verfremdet oder ästhetisiert, kommt in »Massaker« mit einer gewissen archaischen Rohheit zum Ausdruck, die alles andere als Naivität, sondern Intention ist. Man kann es als geschmacklos abqualifizieren, dann riskiert man allerdings, einen viertelbildungsbürgerliche "Geschmack" zugrunde zu legen, mit dem man auch Rabelais und Grimmelshausen aus der Literatur kicken kann. Weigoni spitzt auf seine Weise zu, dass Banalität zunehmend das Maß des Alltäglichen wird, legt mit ihren Formulierungen die brutalen Implikationen des Normalen frei. Seine Sprache ist immer an der Grenze zum Erträglichen; überschritten wird diese Grenze nicht. Poesie und Härte, Abscheu und Einfühlsamkeit fassen sie zu einer ungewohnten Einheit zusammen. Das schafft Aufmerksamkeit, ist allerdings keine Effekthascherei. Jacqueline, die Hauptfigur in Massaker, erscheint als klassisches Motiv der männermordenden Hexe, gefährlich wie Tollkirschen und verführerisch wie Lulu. Sie ist der Würgeengel des Mannes, zugleich selber dem Untergang geweiht. Dabei vereinigt Jackie tödliche Naivität, seelische Verwilderung und heilige Sünde. Ihre Bühne ist die Cranger-Kirmes. Diese Figur, quasi als Untote, durchschaut die Zukunft der Menschen, die mit ihr, fast zufällig, über die Tatorte schlendern. Sie weiß um die Schicksale, die sie ihren Opfern beschert. Verbrechen ist auch das Produkt der Gesellschaft, es legt ihr Wesen offen. Jacqueline ist die Manifestation eines Verbrechertypus', der erst durch die Globalisierung entstehen konnte: ein sich selbst entfremdeter Mensch, der in der Anonymität des Ballungsraums seine Psychopathien auslebt. Gewalt ist für Jaqueline eine Notwendigkeit. Es geht in ihrer Natur um den Kreislauf von Vernichtung und Erneuerung. A.J. Weigoni ist es gelungen, dem Genre Schundliteratur eine ästhetische Dimension abzugewinnen, er gibt so der Sprache der Straße im 21. Jahrhundert eine künstlerische Form.


    Auch der Autor Stefan T. Pinternagel präsentiert ein erschütterndes Geständnis eines Serienkillers über das verlorene und wiedergefundene Ich in gleitenden Übergängen von der absurden Welterfahrung und einer Verinnerlichung zur lakonischen Reflexion und umgekehrt. Dieser Serienkiller ist der Jäger, die Menschheit ist seine Beute. Hineingeboren in eine Zeit, welche als Blutsaufjahrhundert in die Geschichte eingegangen ist, ist es nicht schwer zu verstehen, warum der Mensch eine Sau ist und was ihn wohl doch zum Menschen macht. Unzufriedenheit ist der Motor dieses Schreibens, aber es ist nicht die Unzufriedenheit mit den Verhältnissen, sondern mit der eigenen Leistung, solange sie nicht perfekt ist. Und wann ist sie das schon. Es gibt keine Gesellschaft, deren Ursprung nicht in einem Mord liegt, und keine Gesellschaft kommt ohne Rituale aus, in denen der Ursprungsmord symbolisch wiederholt wird, um damit die stets drohenden Gewaltausbrüche des mimetischen Begehrens zu bannen. Schon im antiken Theater und auch bei Shakespeare sind Psychopathien zum literarischen Stoff geworden. Die Entfremdung des Individuums, die Verlorenheit seiner Selbst, l'aliénation, wie Sartre, Camus und die anderen Existentialisten es nannten, ereignete sich durch die Urbanisierung, die Entstehung von Großstädten. Das Leben in der Großstadt führte zu einem verstärkten Gefühl der Einsamkeit und Isolation; dem vom Gewalttrieb beherrschten Mensch fiel es leichter in diesen schwer überschaubaren Räumen ein Verbrechen zu begehen und Tatspuren verwischen zu lassen. Ob Kitsch- oder Gruselfabrik - beide Niederkunftsstätten einer nicht ungefährlichen Genussucht und Genusstreben. Ein Extremsportler sucht den Kick und will möglicherweise auch die Bewunderung erzwingen, während die Zuschauer sich nur an seinem halbbrechenden Spektakel aufgeilen. Gruselfilme, -romane, -hörspiele züchten die Perversität unserer Augen und Ohren und kratzen unter der Kruste unseres ontologischen Instinkterbe dermaßen raffiniert, das wir den Zeugenstand verlassen, transzendieren sozusagen, um zumindest als Statisten in einem solchen ultimativen Szenario zu agieren. Für einen Menschen, der ein monotones, farbloses Leben führt, kann der künstlich/künstlerische Alptraum eine willkommene Abwechslung, um es salopp auszudrücken, eine Kompensation, ein Substitut sein. Aber was geschieht mit jemandem, für den der Alptraum quasi zur Realität seines Daseins gehört und sich unaufhörlich ereignet? Braucht man solche Kunstwerke, die vor der grausamen Realität verblassen und vom Leben übertrumpft sind, kann man sie noch ertragen?


    Nicht die Erlösung ist der entscheidende Punkt, sondern vielmehr das Streben danach. Zweifellos erzeugt die Globalisierung paradiesische Rahmenbedingungen für das Ausleben von psychotischen Zwängen. Es ist die Entdeckung des verstörten Ichs und seiner Stimme, machte bereits Edgar Allen Poes Geschichten so außergewöhnlich. Mörder erzählen darin, wie und warum sie gemordet haben – soweit sie selbst es überhaupt begründen können. Und sie berichten, auch wenn sie es abstreiten, von der Pein, die ihnen ihre Schuld bereitet. Das "verräterische Herz" ist ja nicht wirklich das des Ermordeten: Das Pochen steckt fest im Hirn des Täters. Und Montresor hört Fortunato, sein mit einem Fass Amontillado in den Tod gelocktes Opfer, rufen, weil ihn der Wahnsinn drückt. Poes Erzähler ist ein Ich im Ausnahmezustand. Und es gibt in diesen Geschichten keine Wahrheit jenseits der Version dieses höchst unzuverlässigen Berichterstatters. Das Grauen muss im Kopf des Betrachters entstehen, es braucht Bewegungsfreiheit. Von Sündenböcken, die geopfert werden, spricht nicht nur der Volksmund gern. Stefan T. Pinternagel hat quasi einen anthropologischen Text ausgearbeitet, in deren Zentrum der Sündenbock und das Phänomen der Gewalt stehen. In einer Gegenwart, die manche Zeitgenossen als den „Kältetod der Theorie“ erleben oder auch als die Erfüllung der Prophezeiung vom „Ende der großen Diskurse“, rückt der Hörplanet diesen Text in ein sichtbares Zentrum - zumal das Aufhellungspotenzial dieser »Fragmente« sie über den Verdacht erhebt, bloß Pausenfüller auf einer derzeit leeren intellektuellen Bühne zu sein. Die in ihren Grundstrukturen konvergierenden mythologischen Erzählungen aller Kulturen, machen die Opferrituale der verschiedenen Religionen plausibel. Vor allem dadurch, dass die Gestalten, welche Vorbild des für die Krise verantwortlich gemachten und dank dem Ritus gegenwärtig werdenden Opfers sind, im Mythos zugleich als jene Instanzen erscheinen, denen das Opfer dargebracht wird. Im Gegensatz zu den Mythen können uns Tragödien eine Ahnung davon geben, dass die vermeintlichen Aggressoren in Wirklichkeit niemand anders waren als die unschuldigen, weil beliebig ausgewählten Opfer. Wie der so genannte "Holiday Killer" die Welt sieht, sich an der noch intakte Schönheit mancher Schnittstellen von Himmel und Wasser oder Himmel und Erde berauscht, um sie dann in eisklare Denkformen einzugießen. Das kann nicht unbedingt jeder aushalten, aber wer Erbauungsliteratur erwartet, wird eher zu Ulla Hahn greifen.


    Der Stoff ist roh, in der Medizin bedeutet das Wort Fragmente soviel wie "Knochenbruchstücke", und davon wird detailgenau erzählt. Oft kann eine sexuell lustorientierte Bedeutung in diese Tötungen hineininterpretiert werden. Es handelt sich dabei oft um in sadistischer Weise verübte Taten, die eine für den jeweiligen Täter spezifische Signatur aufweisen. Die Endlosschleife ist eine der erbarmungslosen Schöpfungen des Medienzeitalters. Sie ist eine Erfindung, die sich auf denkbar brutale Weise dehnen lässt, gerade im Katastrophenbusiness, wenn immer wieder dieselben Schreckensbilder sich zum Quälnaturalismus fügen. Diese Art von Text arbeitet nicht an der Erhaltung des Status quo und richtet sich gegen das, was man „den guten Geschmack“ nennt. Von Katastrophen, realen und befürchteten, muss erzählt werden, auch mit den Mitteln der populären Kultur, weil es Katastrophen gibt. Wie den Tod, wie den Krieg, wie das Verbrechen und wie die untreue Geliebte. Zur "Katastrophenphantasie" gibt es Theoreme des Destruktiven und solche des Konstruktiven. Die destruktivste stammt von Theodor W. Adorno. Nach ihr verhält es sich so, dass jemand, der von Katastrophen träumt, diese sich in Wahrheit auch wünscht. Zum leicht gemäßigten Destruktivismus tendiert Susan Sontag. Bei ihr geht es "um die Ästhetik der Destruktion, um die seltsame Schönheit der rächenden Verwüstung, der Schaffung eines Chaos", aber auch darum, dass man Tod, Schmerz und Vernichtung spielen kann, folgenlos für Körper und Seele. Was den Menschen vom Tier unterscheidet ist wahrscheinlich nicht die Moral oder das Böse, nicht das Bewusstsein und auch nicht der freie Wille. Die intellektuelle Herausforderung besteht darin, das Böse des Menschen als integralen Bestandteil seiner Natur zu begreifen, nicht als historischen Rest, nicht als Atavismus, der launenhaft immer mal wieder den Glanz der ansonsten strahlenden Krone der Schöpfung beschädigt, sondern als Ausfluss artspezifischer evolutionärer Angepasstheit, die den evolutionären Erfolg des Homo sapiens maßgeblich mit begründet. Brutalität, Verbrechen, Kriege scheinen originäre Eigenschaften des Menschen zu sein, der seinen Verstand offenbar eher einsetzt, um seine Ziele zu erreichen, als zur Lösung von Problemen oder Konflikten. Auch nach den Ergebnissen der Evolutionsbiologie und der Verhaltensforschung stößt die Feststellung, dass es etliche Übereinstimmungen im tierischen und menschlichen Verhalten gibt, auf heftigsten Widerstand. Was als böse wahrgenommen wird, hängt mit den Moralvorstellungen zusammen. Die aber werden bestimmt von den evolvierten Strategien und Vorlieben, von einer Prägung und den jeweils vorgefundenen Lebensbedingungen, die bestimmen, welches das für die Verbreitung der Gene bestmögliche Verhalten ist. Es ist nicht die Ratio, die das letzte Wort hat, sondern das limbische System. Am wohlsten fühlen sich die Menschen häufig, wenn für ihre Entscheidung auch die besten Gründe sprechen. Fühlen sich aber wohler, wenn sie gegen die Vernunft handeln, dann tun sie es eben. Erst in der Katastrophe erweist sich der Wert des Einzelnen und der Wert dessen, was Gemeinschaft ausmacht: Solidarität, Opfermut, Heimat. Was den Klarheitsrausch bei der Lektüre Pinternagels auslöst, ist das Gefühl, sich über Gewalt und Gewalterklärer gleichermassen zu erheben. Mit Pinternagel gehören wir für einen Moment nicht mehr zu den radikalen Diskursverlierern, die nach jedem Amoklauf und Attentat einen kleinen Teil der Ohnmacht der Überlebenden nachempfinden müssen, schon weil keine Erklärung befriedigt. Jetzt haben wir verstanden, wir wissen endlich, was die Täter treibt. Pinternagel liefert ein eindrücklich formuliertes Psychogramm. Doch die diskursive Überlegenheit ist Fiktion.


    Der Schauspieler Dennis Rohling versetzt sich beängstigend glaubhaft in die Gedankenwelt dieses "Helden". Er zeichnet das Psychogramm eines Menschen und bringt die Aporien des modernen Daseins zur Sprache: von Individuum und Gemeinschaft, Solidarität und Gewalt, Freiheit und Angst, Entwurzelung und Bildersucht, Weltbemächtigung und Sinnleere, Hedonismus und Einsamkeit. Dank seiner Dramaturgie apokalyptischer Entfesselung hört man diesen Text mit atemloser Spannung. Seine Stimme klingt so, als nehme er ihr Volumen zurück, um sie beweglich zu halten. Das eigentlich Faszinierende an seinen Interpretationen ist die lässige Selbstverständlichkeit seines Verhaltens. Von der Qual der Ermordeten zu erzählen, heißt, diese im Mitleid der Verschonten aufzuheben. Im Grenzraum entwickelt Rohling einen Sinn für klangliche Abschattierungen, entdeckt mit kompromissloser Sorgfalt einen Ausdrucksehrgeiz bis ins Unerhörte und dennoch eine gleich bleibende Noblesse und Eleganz. Manfred Lehmann ist die deutsche Stimme von Bruce Willis. Arne Elsholtz spricht vor allem Tom Hanks’ und Bill Murrays Texte, ist aber auch als Synchronsprecher die Stimme des Mammuts Manni in Ice Age zu hören. Christian Brückner kennt man als Interpret von Robert DeNiro, er genießt einen ausgezeichneten Ruf als Hörbuch-Sprecher. Mit dieser Produktion kann man auch Dennis Rohling zu der Creme der deutschen Hörbuch-Sprecher zählen. Ihm geht es um die Rückverwandlung von stummem Entsetzen in die Sprache des Verstehens. Als Betthupferl sollte man das Hörspiel jedoch nicht hören, vielleicht eher über Kopfhörer bei einem Spaziergang durch eine Fußgängerzone, man wird die Welt mit ganz anderen Augen wahrnehmen. Von der Tragödie muss erzählt werden, damit man nicht an ihr verrückt wird, damit man Sinn im Sinnlosen findet, und mehr noch muss von Katastrophen erzählt werden, weil sich nichts so gut für die Verbindung von Nervenkitzel, Wohligkeit, Erschauern und Propaganda eignet. Das ist ein paradoxes Genre, sie handelt vom Tod, also von dem Unaussprechlichen schlechthin. Der Augenblick des eintretenden Todes ist ein Fast-Nichts. Und jenseits des Todes ist der Tod für den, der ihn zu denken versucht, ein Überhaupt-Nichts. Der Tod kann nur diesseits des Todes bedacht werden. Dann wird nicht der sich entziehende und stets nur bevorstehende Tod, sondern recht eigentlich das Leben zum Gegenstand des Denkens gemacht. Das Formlose, das der Tod ist, zwingt dem Leben Form auf. Und auf diese Weise nötigt der Tod auch dem Schreiben eine Form ab. Was es mit der Unsterblichkeit der Seele, mit denkbarer Erlösung aus dem Tal der Tränen und himmlischer Abgeltung auf sich hat, bleibt unserem Wissen verborgen. Hier herrscht der Glaube vor, mit allen Insignien seiner Macht. Die Menschen sind mythenpflichtig. Die conditio humana findet sich mit den Bedingungen und Widrigkeiten des bloß Gegebenen nicht ab, sondern kompensiert und ergänzt diese um Hoffnungen auf und Blicke in eine andere Welt. Je mehr das Wissen die dunklen Mythen der Vorzeit ins Licht rückte, umso stärker wurde der Eindruck von der Ortlosigkeit des Menschen in Raum und Zeit. Dass die Kunst daran gemessen werde, wie sie dazu zur Überwindung der Todesfurcht beiträgt, hängt von Vielfalt der Geschichten ab, wie der Endlichkeit des Daseins die Werke zuerst abgerungen und dann entgegengestellt werden, damit dieses Dasein doch noch einen Sinn und eine Aufgabe gehabt haben kann. Woran wir leiden, ist die Wandelbarkeit, nicht der eigenen Natur als vielmehr des Zeitgeistes. Die Kunst der Antike hat den Menschen situiert innerhalb des Kosmos und der Natur. Die Kunst heute sieht ihn gern davon losgelöst. Ein Niedergang. "Euch schützt die Masse!" - mit diesen Worten beginnt der Bericht bei diesem Hörbuch. Durch Rohlings Stimme meldet sich die barocke Vanitas zu Wort; doch hier - und in vielen weiteren Umwandlungen des Themas - mischt sich auch der Spott einer modernen décadence ins Motiv: ein Abgrund von Gelächter als Leere des Nichts.


    Matthias Hagedorn



    Der Essay erscheint in: Matrix #5, Pop Verlag / Stuttgarterstr.98 / D- 71638 Ludwigsburg / pop-verlag@gmx.de


    Links: www.soforthoeren.de Die Hörbuch-CD "Fragmente" inklusive der 35minütigen Videodokumentation ist erhältlich über: http://www.hoerplanet.de/


    Restexemplare von »Massaker« erhältlich über: info@tonstudio-an-der-ruhr.de