• Entgegen der Gewohnheit von Künstlern, sich als "Gruppe" zu definieren, ein "Generationenprojekt" ausrufen zu müssen und ein "Manifest" zu proklamieren, vergaßen Jürgen Diehl und A.J. Weigoni jegliches kuratorische Wissen und öffneten sich neuen Lösungen. Mit dem Vorhaben, "grenzüberschreitende artIQlationen" zu realisieren, gelang ihnen das dialektische Kunststück, konstruierte Pathosformeln und Energiesymbole zur Einheit von Denken, Wollen und Fühlen durch eine eigene, streng individualistisch–lustvolle Selbstaneignung einer wahrhaftigen künstlerischen Freiheit zuzuführen.


    Jürgen Diehls “Problem”, eine Triple-Begabung zu sein, folglich in allen künstlerischen Bereichen Qualität zu besitzen, stellte sich für die Menschen in seinem Umfeld als inspirierender Vorteil dar. In dieser Leichtigkeit war Jürgen Diehl auch klar, daß jedes Bild nur die Beschreibung eines Weges ist, das uns als Suchende gefunden hat. Kunst sollte bei aller Ernsthaftigkeit nie ihre augenzwinkernde Begleitung aufgeben, doch bei allem Spiel nie die Würde vor dem Gegenstand ihrer Betrachtung verlieren. Auf dem Seil zwischen diesen beiden Anspannungen bewegte sich Jürgen Diehl mühelos, ohne Netz und immer mit Fallwissen. Denn er wußte, daß die Kunst eine der schönsten Fluchtmöglichkeiten ist – mit Ankunftswillen.


    Falls die Geschichte der Medien die Geschichte einer Konkurrenz ist, begann sie mit einem Vorsprung. Die Dichter hatten die Montage entdeckt, als die ersten Fotographen noch Stunden brauchten, um ein einzelnes Bild zu entwickeln. Es war, als hätte die Literatur den Film erahnt, und, als er kam, genossen sie gemeinsam den Rausch der sich überstürzenden Eindrücke. Das Drehbuch wurde erfunden, später der Rundfunk mit dem Hörspiel begrüßt. Als das Fernsehen sich breit machte, fand es die Schriftsteller schon in skeptischer Distanz. Multimediales Spiel mit Video, Performances und Installationen dachten Maler und Musiker sich aus, deren Zaungäste manchmal auch Dichter waren. Die Grenzen von Bildkunst, Literatur und Musik lösen sich sich im 21. Jahrhundert zunehmend auf. Es geht den Artisten um eine Art Überlappung, die Entdeckung von Gemeinsamkeiten und gegenseitige Inspiration.


    Plattform für die Aktivitäten bot die Werkstattgalerie "Der Bogen", in der auch der Künstler Peter Meilchen arbeitet. Die Artisten einigten sich darauf, »Schland« zu realisieren. Im Verlauf des Projekts wurden neue Werkzeuge erprobt: Soundsampler, Computer, Elektrografie, Video wurden im künstlerischen Spannungsfeld von Performances, Theateraufführungen und Rezitationen selbstverständlich.


    Ausschließlich das, was als ein Kunstwerk angesehen wird, genießt das Privileg einer hochorganisierten Wahrnehmung und Einordnung, statt, wie die meisten Produkte und Bilder des Alltags, trotz intensiven Gebrauchs letztlich unbeachtet zu bleiben und nach Gebrauch vergessen und zerstört zu werden. Sehen / Erkennen besteht, als übergeordnete Stufe, in der Assoziation optischer mit akustischen, taktilen und anderen Begriffsspeichern sowie mit Kombinationszentren der Begriffs– und Sprachbildung. Durch dieses assoziative Sehen kommt es zum optischen Erkennungs– bzw. Wahrnehmungsprozeß. Mit Scharfblick hat Peter Meilchen die Differenz zwischen der Realität in ihrem Abbild gezeichnet. Im 21. Jahrhundert beginnt man, die Abbilder der Realität vorzuziehen und sie zu fiktionalisieren. Gespeist durch diese Erkenntnisse entstand die grenzüberschreitende artIQlationen »Schland«. Bei diesem Ohr-Ratorium vertraute A.J. Weigoni dabei grundsätzlich nicht mehr der Detailarbeit in der Regie. Detailarbeit ist seiner Ansicht nach vernichtend, sie nimmt den Menschen das Selbstwertgefühl und wäre ein grundlegender Angriff auf die Kreativität. Entweder liegt ein Thema oder ein Stoff in der Luft und entwickelt sich von selbst, oder es ist einfach nur Mache.


    Ironie ist für Peter Meilchen, Tom Täger, Haimo Hieronymus, Thomas Suder und A.J. Weigoni wichtig, nicht im distanzierenden Verständnis, sondern im romantischen Sinn. Da signalisiert Ironie nicht das Trennende, sondern das Verbindende, das, was den Subjekt–Objekt–Zusammenhang herstellt. In Deutschland gibt es einen pathetischen Hang dazu, alles gleichsetzen zu wollen.


    Diese Artisten sind Produkte der Gesellschaft, in der sie leben. Ihre Produkte beschreiben unter Zuhilfenahme künstlerischer Stilmittel die Realität. Die Gewissheiten des bildungsbürgerlichen Wertekanons sind in Frage gestellt, während sich zugleich das Feld dessen, was unter Kultur verstanden wird, erweitert hat. Tom Täger erfaßte diesen Zusammenhang intuitiv, als er »Schland« für den Klangturm St. Pölten digitally remastered hat. Die Vergangenheit gegen die Gegenwart denken, der Gegenwart Widerstand entgegensetzen, nicht für eine Rückkehr, sondern zugunsten der Zukunft, markiert die Schnittstelle zur Umsetzung auf DVD. Klang als Objekt zu begreifen, ihn greifbar zu machen, ist das vorrangige Ziel von Tom Täger. Er nähert sich dieser utopischen Idee. Alles wäre demnach gesagt, Sound ein Fetisch.


    Interaktion, Vernetzung, Medialisierung sind zeitdiagnostische Schlüsselwörter geworden. In Tom Täger hat A.J. Weigoni einen optimalen Kooperationspartner gefunden. Täger, der in seinem Tonstudio an der Ruhr die ersten Alben von Helge Schneider und Tom Liwa produzierte oder die Missfits begleitete, hat ein Faible für Trivialmythen.


    Bei einer weiteren Datensicherung von Tom Täger wurde der analoge Hörfilm »Das kleine Helferlein« digital restauriert. Wer nicht hysterisch über Kunst und neue Medien sprechen will, braucht nicht in einen naiven Realismus zu verfallen. Es gibt dazu eine Alternative, die nicht minder rational ist: die medienarchäologisch genaue Analyse jener Änderungen der Wirklichkeit, die sich auf dem Weg von den einstige Analogmedien wie Rundfunk oder Telefon zum Digitalmedium Computer ereignet haben. In der Rückschau auf die Elektrografie lassen sich diese Entwicklungslinien nachzeichnen. Mit dem Kopierer wurde in den 1990–ern die Textur der Elektronik erkundet und sich auf die Suche nach Bildern begeben, die man sich selbst nie hätte ausdenken können. Gerade aus Unfällen entstand vieles, was sich erst im Internet durchgesetzt hat. Nicht der Mensch ist kreativ, sondern die Fusion aus Mensch und Maschine findet wie von selbst ihre Bilder und ihre Sprache. Den Abschied vom Schöpfergenius des 19. Jahrhunderts haben Copyart–Künstler vorweg gedacht.


    Zum Kulturbegriff gehört seit dem 17. Jahrhundert die Beschäftigung mit sich neu entwickelnden Formen geselligen und ehrbaren Lebens. Es gilt Stagnationen zu vermeiden und Kooperationen zu ermöglichen. Man muß eine Kulturdebatte über Medien und Medienentwicklung führen, da bieten sich Literatur, Bildende Kunst oder auch alles, was multimedial stattfindet, natürlich an, weil sich die Künstler, auch über die spezifischen Fachgrenzen hinaus, gerade in den letzten zehn Jahren mit gesellschaftlichen Fragestellungen befaßt haben. "Das kleine Helferlein" ist ein unterhaltsamer Hörfilm gegen den kulturellen Gedächtnisverlust.


    Weil sich die Gesellschaft totalitär des Individuums bemächtigt, und ist damit auf unsichtbar geworden, unbegreiflich. Das Ideologengeschwätz von der "Selbstverantwortlichkeit des Individuums" wäre lächerlich, hätten die Einzelnen es nicht auf grausame Weise verinnerlicht. Unter der Samtmaske der Liberalität verbirgt sich ein Stahlgerüst aus Ressentiment und Abwehr.


    Die Laboranten Peter Meilchen, Tom Täger, Haimo Hieronymus, Thomas Suder und A.J. Weigoni wissen über die Globalisierung alles, was man von der Provinz aus wissen kann. Also eigentlich nichts. Aber das völlig umfassend. Netzwerk ist der Leitbegriff des “Labors”, er bestimmt auch das Bild, das sich die Artisten von ihrer Gesellschaft machen. Sie denken über die Technologie als eine Allegorie sozialer Beziehungen nach. Die Lebendigkeit der vielgestaltigen Menge stellt sich gegen das identitäre Kommando der Postmoderne. In diesem Moment des, möglicherweise sinnlosen Aufbegehrens, gewinnen die Künstler ihre eigene Handlungsfähigkeit und fühlen sich als Teil einer kosmopolitischen Bewegung der Wiederaneignung einer entglittenen Welt.


    Der zentrale künstlerische Begriff des Labors lautet: Sample. Damit reihen sich die Artisten in einen Bogen ein, der von Walter Benjamin bis in das 21. Jahrhundert reicht. Der Montage–Begriff meint eine kulturelle Technik, in der Bruchstücke zu neuen Einheiten äußerlich zusammengefügt werden, wobei ihre Herkunft aus Zertrümmerung sichtbar bleibt; dennoch tritt das Montierte wieder als Einheit auf und wirkt konstruktiv. Bei den Arbeiten der Laboranten ist alles aber gehalten ist von der Symmetrie der Teile und ruhelos verdeckter Konkordanz. Daß auch Ältestes wieder auftaucht, Scholastik, Ägypten, die Odyssee; ist charakteristisch und zeigt den unheimlich schöpferischen Charakter des Zerfalls. Die Geschichte selber montiert Zeiten, die gar nicht zusammenpassen. Montage als Gestaltungstechnik ist eine Reaktion im großbürgerlichen Geist auf die Endkrise, in die der Kapitalismus eintritt. Die Reaktion wird bleiben, auch wenn die Krise gelöst sein wird; sogar der Verfall einer Kultur bringt Innovatives hervor, das man tradieren muß. Der Begriff der "Compilation" verrät schon als Wort diese Spannung, daß man einem Destruierten das Konstruierte ansehen soll und umgekehrt. In der Grammatologie beginnt die Destruierung und, wenn nicht die Zerschlagung, so doch die De–Sedimentierung, der Compilation aller Bedeutungen, deren Ursprung in der Bedeutung der Logik liegt.


    Mit dem anlogen Tantheater-Projekt ‚the vera stange tapes’ begann die multimediale Zusammenarbeit von Thomas Suder und A.J. Weigoni. Das Konzept der grenzüberschreitenden artIQlationen hat eine ambivalente Geschichte, weil es sich eher mit den formalen und expressiven Aspekten von Kommunikation beschäftigt, als mit dem materiellen Substrat oder Medium; deshalb befindet sich ‘Style’ im Herzen der Klassifizierungen und Kategorisierungen, die einen Künstler, eine Bewegung oder eine Zeit von einander unterscheiden. Ein neues Denken muß einer Welt ins Gesicht sehen, in der gebräuchliche Dichotomien nicht mehr gelten. Indem Ideen als Lockstoff ausgelegt werden, fliegt einem die rettende Idee schließlich wie von selber zu.


    Die neuen Strukturen des Raubtierkapitalismus, mit dem Künstlerethos der Selbstverwirklichung und den flachen Hierarchien, die Eigeninitiative fordern, dringen aufgrund ihrer größeren Menschlichkeit tiefer in das Seelenleben der Menschen ein. Die Grenzen zwischen Mäzenatentum und fast parasitärer Indienstnahme der Kunst und sind fließend. Kunst ist im 21. Jahrhundert ein Marketinginstrument, ein intellektuelles Spiel und ein kühl eingesetztes Werkzeug der Disziplinargesellschaft; gleichzeitig ist sie Teil des Business und dessen schärfstes Analyseinstrument. Diese Artisten sind nicht mehr unschuldig. Aber auch längst nicht mehr ahnungslos.


    Die Ablehnung von Gruppenhochmut ist für die Laboranten Peter Meilchen, Tom Täger, Haimo Hieronymus, Thomas Suder und A.J. Weigoni keine Neuerung, es ist eine programmatische Abgrenzung gegenüber Althergebrachtem, geradezu Voraussetzung für eine künstlerische Produktion, die sich als außergewöhnlich durchsetzen will. Ist der Fundus innovativer Spielformen ausgereizt, langweilt Wiederholung und Selbstreferenzielles, suhlt man sich in persönlichen Obsessionen, die nur noch Eingeweihte amüsieren. Selten hat es eine Epoche gegeben, der möglicherweise sogar die Begriffe fehlen, die eigene Gefährdung zu beschreiben. Der Raubtierkapitalismus beutet nicht nur die physische Seite aus, sondern gerade die psychische Seite, die Subjektivität des Menschen. Subjektive Kompetenzen, Kreativität, Entscheidungsfähigkeit, mentale Stärken, soziale Kompetenzen stehen im Mittelpunkt der Wertschöpfung. Diese Wissensgesellschaft produziert kollektiver als eine Industriegesellschaft.


    Haimo Hieronymus sieht sich vor, daß er sich nicht in veralteten Dichotomien von traditionell oder zeitgenössisch, lokal oder global verheddert. Kultur als Suchbewegung, nicht als Kontrollfiktion macht wesentlich sein Unbehagen an der Kunst aus. In ihren Überlegungen geleitet waren er und Peter Meilchen davon auch in ihrem Projekt »Dialog«. Sie gehen das Risiko ein, auf Nebengleisen zu fahren, statt Trends hinterher zu laufen. Ihr Geheimnis bleibt es, wie sie aus der gelassenen Betrachtung Funken hervorzaubern, wie aus tauber Müdigkeit Farben entstehen. Die Vergänglichkeit des Moments symbolisiert die Instabilität eines sozialen Zustands in einer Übergangsgesellschaft. Diese Flüchtigkeit ist jener Teils ihres Ichs, den sie "mein Instrument" nennen, sie wirkt wie ein fragiles Fragezeichen, fremd in einer noch fremderen Welt Melancholiker flüchten in die schützenden Arme der Tradition. Remakes laden zum Vergleich ein. Wobei das Ergebnis schon vorher feststeht: Es ist üblich, das Alte besser zu finden. Weil sich damit so wunderbar ein Lebensgefühl ausdrücken läßt – das Unbehagen an der Gegenwart. Interaktion, Vernetzung, Medialisierung sind zeitdiagnostische Schlüsselwörter geworden.


    Die Ironie, die bei den Laboranten zu spüren ist, basiert Endes auf Melancholie, auf einer Sehnsucht nach dem, was viele bereits abgeschrieben haben: doch noch etwas bewirken zu können, obwohl wir ständig vom Gegenteil überzeugt werden wollen – eine tragische und traurige Position, die nur von durchscheinender Klarheit und feierlicher Bescheidenheit gemildert werden kann. Fauler Zauber braucht Gegenzauber. Glaubwürdigkeit ist keine Sache der Faktentreue, weil es derlei Fakten in der Kunst gar nicht gibt. Was es gibt, ist Stimmigkeit, vermittelt über eine Form, die ihrem Gegenstand schlüssige und vielleicht auch neue Sinnzusammenhänge eröffnet. Der Gegenzauber kann dann Verzauberung heißen.


    Der Idealismus war der Gedanke, daß die Menschen über eine Kraft verfügen, die dem Übel unbezahlt Widerstand leistet und das Richtige prämienfrei tut. Die letzte unbezahlbare Freiheit, nämlich Erkenntnisse zu haben, wird in ökonomische Begriffe übersetzt, weil diese liberale Ökonomie eine ‘ultima ratio’ ist, ein Ende der Vernunft. Der Weltuntergang wird zu einer phänomenalen Urkomödie.


    Selbstachtung zu haben, bedeutet für die Betreiber des Laboratoriums, hart an sich zu arbeiten. Für Peter Meilchen, Tom Täger, Haimo Hieronymus, Thomas Suder und A.J. Weigoni gilt keine etablierte Wahrheit als sakrosankt; indem sie das Fundament des Denkens in Frage stellen zeigen sie, daß sich kreatives Denken unabhängig von jeder experimentellen oder auch nur mathematischen Unterstützung entfalten kann: Es gibt nichts anderes als den freien Flug der konzeptuellen Einbildungskraft, als die künstlerische Arbeit. Nur sie hat die Macht, das Gefühlschaos, die Vergeblichkeit und das verfehlte Leben in die Wahrheit einer höheren Ordnung zu überführen.


    Matthias Hagedorn



    Weitere Infos: www.bilder-raum.de


    Die Produktionen »Texte«, von Peter Meilchen - »Unbehaust«, von A.J. Weigoni – und »Das kleine Helferlein« stehen bei www.hoerspiel-labor.de als download im Netz zu hören.


    Als CD sind die erwähnten Produktionen erhältlich über: info@tonstudio-an-der-ruhr.de


    Bestellmöglichkeit der DVDs: 02932 / 82471


    Weitere Infos zu »Das kleine Helferlein« finden sich unter: http://urbons.de/


    Bestellmöglichkeit der Künstlerbücher: 02932 / 24575